„According to the U.S. Army, one Iraqi prisoner was told to stand on a box with his head
covered, wires attached to his hands. He was told that if he fell off the box, he would be
electrocuted. […] In some [pictures], the male prisoners are positioned to simulate
sex with each other. And in most of the pictures, the Americans are laughing, posing,
pointing, or giving the camera a thumbs-up.“1
Mit diesen Worten wurden am 28.04.2004 in der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS
News jene Bilder kommentiert, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Abu
Ghuraib, einem Militärgefängnis unter US-amerikanischer Führung im Irak, dokumentieren und
den Beginn einer, weltweite Aufmerksamkeit erregenden Serie von Enthüllungen zahlreicher
weiterer Vorfälle dieser Art u.a. auch im US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo auf
Kuba markieren.2
Was die Entrüstung der Öffentlichkeit im Anschluss an die Berichte der darauffolgenden
Wochen und Monate gipfeln ließ, war eine offensichtlich sowohl moralische als auch
rechtliche Widersprüchlichkeit, die sich aus dem Kontext der Vorfälle ergab und die der
frühere Marine-Oberst Bill Cowan noch in der Sendung am 28.04.2004 wie folgt formulierte:
„We went into Iraq to stop things like this from happening, and indeed, here they are
happening under our tutelage […].“3
Das Problem, das in seiner Bedeutung über die schon als solche schwer erträglichen Gewaltakte
selbst hinausging, lag darin, dass man etwas getan hatte, das gerade das, was man getan
hatte, beenden sollte, oder, anders formuliert: dass an gerade dem Ort Folterungen
stattgefunden hatten, dessen Chronik der Folter4
als einer der Gründe angegeben worden war, welche die Notwendigkeit einer, zuvor scharf
kritisierten militärischen Intervention hatten legitimieren sollen.
Wie hatte es dazu kommen können? Abgesehen von möglichen Motiven der reinen Befriedigung von
Gewaltphantasien einzelner Militärangehöriger, die an der konkreten Ausführung der Maßnahmen
beteiligt waren und daraus sich ergebenden Verdachtsmomenten hinsichtlich einer potenziellen
Unaufrichtigkeit von Verantwortlichen, und abgesehen auch von Spekulationen über die Frage,
inwiefern die humanistischen Ziele für die militärische Intervention überhaupt primärer
Natur gewesen waren, lautete die offizielle Erklärung, dass man durch die getroffenen
Maßnahmen Informationen erzwingen wollte, mit Hilfe derer neuerliche Anschläge hätten
vermieden werden sollen.5
Man hatte also die Sicherheit der Bevölkerung und die Menschenwürde der Gefangenen
gegeneinander abgewogen und war zu dem Entschluss gekommen, dass zu viele Menschenleben
(einschließlich die der US-amerikanischen Soldaten) auf dem Spiel stünden, als dass auf
Praktiken verzichtet werden könnte, die gegen die Genfer Menschenrechtskonvention verstoßen
würden. Falls diese Erklärung zutrifft, dann wäre der bewusste Verzicht auf solche
Informationen6
angesichts fortdauernder Terroranschläge im Irak und in Afghanistan genauso falsch gewesen,
wie es die Missachtung der Genfer Menschenrechtskonvention schließlich war. Die geschilderte
Situation entspricht einem Entscheidungsproblem, das Niklas Luhman in dem Aufsatz Gibt
es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? als Tragic Choice7 bezeichnet:
gemeint sind Entscheidungen, die nicht richtig getroffen werden können und darum falsch
sind, wenn man sie trifft.
Die US-amerikanische Regierung hatte unter dem Druck der Ereignisse, den Jack Goldsmith, der
von Oktober 2003 bis Juli 2004 United States Assistant Attorney General im Office of Legal
Counsel im US-Justizministerium war, so beschreibt:
„Everyone in the administration with access to highly classified intelligence in threats to
the homeland was scared of another deadly attack, and of not knowing how to prevent it. This
fear […] of not doing enough to stop the next attack, and an equally present fear of
doing too much and ending up before a court or grand jury – lie behind the Bush
administration’s controversial legal policy decisions about the Terrorist Surveillance
Program, the Geneva Conventions, military commissions, interrogation techniques, Guantanamo
Bay, and more“8,
unter diesem Druck hatte sie alles falsch gemacht, weil es nur falsch gemacht hatte werden
können. Wenngleich also die moralische Empörung über den Einsatz von Folter als
gesellschaftsweiter Konsens beobachtet werden konnte, weil die Öffentlichkeit Grund zu einer
moralischen Verurteilung hatte, unabhängig davon, ob die Verdachtsmomente hinsichtlich der
Aufrichtigkeit der offiziellen Begründungen gerechtfertigt waren oder nicht, wenngleich man
also den Eindruck hatte, dass der Umgang mit der Angelegenheit nur so und nicht anders
möglich war, konnte das dahinter liegende Problem offenbar keineswegs so eindeutig
entschieden werden. Zumal in rechtlicher Hinsicht.
Unter rechtlichen Gesichtspunkten fehlt im Fall von Tragic Choices eine universalisierte
Verhaltenserwartung in Form einer unverzichtbaren, folgeindifferenten Norm, an die der
Verantwortliche sich halten könnte, um rechtmäßig zwischen Recht und Unrecht zu
unterscheiden. Stattdessen ist „man […] im Unrecht, wenn man zwischen Recht und
Unrecht unterscheidet.“9
Dieser Mangel an unbezweifelbaren Möglichkeiten der Orientierung ist laut Luhmann allerdings
nicht etwa Folge eines Versäumnisses des Rechtssystems und damit durch legislative
Bemühungen zu beheben und er lässt sich auch nicht durch moralische Unterscheidungen
substituieren.10
Stattdessen sei das Problem, das im Zusammenhang mit der Begründung des positiven Rechts der
modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auftritt, unvermeidlich. Auch eine
soziologische Analyse des Sachverhalts, so wie Luhmann sie unternimmt, könne deshalb keine
einwandfreie Entscheidung liefern, wenngleich doch aber dazu beitragen, ein besseres
Verständnis des Sachverhalts zu gewinnen.
Die Bedeutung des Normativen für die Gesellschaft besteht aus einer funktional-analytischen
Perspektive in der Kondensation und Generalisierung von Verhaltenserwartungen, die
kontrafaktisch angelegt sind und auch im Enttäuschungsfall durchgehalten werden.11 Das
Rechtssystem differenziert sich gesellschaftlich aus, indem bestimmte Erwartungen bezüglich
möglicher Handlungen jeweils durch bestimmte Normen, die allen bekannt sind und im
Bedarfsfall durch Sanktionen gedeckt werden, zum Ausdruck gebracht werden. Das in den Normen
kodifizierte Recht als Medium des Rechtssystems beschreibt Luhmann als Realitätsverdoppelung,
„so, wie man zwischen Spiel und Ernst unterscheiden kann oder nach der Evolution von Sprache
zwischen den Sprachzeichen und dem, was sie bezeichnen; und Ähnliches gilt für die Annahme
eines religiösen Hintergrundsinns der phänomenalen Welt oder für die Unterscheidung des
Kunstsystems zwischen fiktionaler und realer Realität – wie immer man sich in solchen Fällen
dann die Kopplung und die Möglichkeiten einer Grenzüberschreitung vorstellt.“12
Bei ausreichendem Abstraktionsniveau lässt sich feststellen, dass eine Realitätsverdoppelung
bei der Evolution aller Systeme stattfindet, weil sie sich überhaupt nur schließen können,
indem sie bestimmte, eigene Unterscheidungen, mit deren Hilfe allein sie Beobachtungen
anzustellen in der Lage sind, in die sonst unterschiedslose Welt einführen.13
Funktionssysteme müssen ihre Realitätsverdoppelung jedoch begründen, weil sie darauf
angewiesen sind, dass Bewusstseinssysteme ihre fiktionalen Unterscheidungen nutzen, um
Mitteilungsabsichten zu entwickeln; und dies gelingt wiederum nur dann, wenn die
betreffenden Bewusstseinssysteme davon ausgehen können, dass ihre kommunikativ verfassten
Mitteilungsabsichten nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert werden.14 Bezogen auf
das vorliegende Problem lautet die Frage dementsprechend: „ob und mit welchen semantischen
Mitteln das Rechtssystem die Geltung bzw. Unverzichtbarkeit von Normen begründen
kann.“15
Die ursprüngliche Antwort auf diese Frage war bis zum Übergang in die Moderne das Naturrecht
gewesen: Aristoteles unterscheidet grundsätzlich zwischen einem natürlichen Zustand als
Perfektion der teleologischen Ordnung und einem naturwidrigen Zustand der Natur.
Normalerweise erreicht die Natur den in ihr selbst angelegten perfekten, gleichsam
göttlichen Zustand. Nur, wenn sie diesen in Ausnahmefällen verfehlt, ist es nötig, mit dem
am Naturgesetz orientierten Gesetz (nomos) die „defizienten Restbestände“16 zu
überwinden. Auf diese Weise wird die Ordnung des Hauses und der Stadt, die qua ihrer
Verfasstheit als hergestellte Rechtsordnungen eigentlich dem Bereich der Technik zugeordnet
werden müssten, zu einem Naturrecht. Die Begründung einer Unverzichtbarkeit ergibt sich
dabei aus dem Deckungsverhältnis zwischen natürlicher, göttlich perfekter Normalität und
Normativität. Wer will sich schon mit Göttern anlegen, wenn er nicht gerade Zeit für eine
10-jährige Bootstour hat?
Auch im römischen Recht wird der zunächst vorhandene Unterschied zwischen natürlicher Ordnung
und zivilisatorischer Entwicklung, der das zivile Recht dem Naturrecht grundsätzlich
gegenüberstellt, letztlich aufgelöst: Zwar wird die zivilisatorische Entwicklung als
Abweichung vom Naturrecht begriffen, weil sie das natürliche Verhalten der Lebewesen
einschränkt; zugleich jedoch wird diese Einschränkung selbst mit einer Semantik der
Natürlichkeit beschrieben, wodurch die Paradoxie, die jeder Unterscheidung zugrunde liegt,
entfaltet werden kann: das Unterschiedene ist identisch, das Identische ist unterschiedlich.17 Laut Luhmann
setzt sich dieses Phänomen im 18. Jahrhundert mit der Lehre vom Sozialvertrag und einem
paradoxierten Freiheitsbegriff, der vor allem besagt, dass zur Freiheit auch der Verzicht
auf Freiheit gehört, fort: die Auflösung erfolgt dann über die Unterscheidung von Freiheit
und Willkür.
„In dieser Fassung hat die historische Semantik des Naturrechts die Feudalordnung und ihre
Auflösung, den neu entstehenden Territorialstaat und den Übergang zum absolutistischen
Staatsverständnis begleiten können; und auch der aufgeklärte Absolutismus, ja selbst der
Übergang zum konstitutionellen Staat liberaler Prägung bedient sich noch des
Naturrechtsgedankens.“18
Als Naturrecht war das Recht jeweils mit Begründungen verbunden, die ein weiteres Nachfragen
nach etwaigen Begründungen der Begründungen nicht zuließen: in der Antike „war dies durch
Ursprungsmythen garantiert gewesen […] [in] der frühen Neuzeit übernimmt die […]
Metapher der ‚Rechtsquelle‘ diese Funktion.“19
Wenngleich in solchen Konstruktionen zum Ausdruck kam, dass die jeweiligen Normen aus sich
selbst heraus Geltung besitzen und unverzichtbar sein sollten, ergab sich jedoch eine
tatsächlich ausreichende Plausibilität hinsichtlich der Geltung und Akzeptanz aus solchen
Reflexionsstopps allein nicht.
Aus soziologischer Perspektive darf man vermuten, dass solche semantischen Konstruktionen mit
gesellschaftlichen Strukturen einhergehen müssen, um längere Zeiträume zu überdauern. Im
Fall des Naturrechts finden wir solche Strukturen sowohl für die antike, wie auch die
mittelalterliche Konstruktion des Rechtsgedankens in einer stratifikatorischen
Differenzierung mit einer herrschenden Adelsschicht, an deren Spitzen Autoritäten über die
Durchsetzung des Rechts und seiner Semantik wachen, indem sie Zuwiderhandlungen
sanktionieren. Dass solche Gesellschaften mit, im Vergleich zu segmentären Gesellschaften
höheren Komplexitätsanforderungen ein ziviles Recht benötigen, welches das wie auch immer
konkret vorgestellte ursprüngliche Naturrecht ergänzt, ist leicht nachvollziehbar.
„Daß diese Ordnung als Abweichung vom Naturrecht deklariert werden muß, mag
auffallen. Aber das reicht offenbar aus, um die Beziehung zur Natur, wie sie in einem
Essenzenkosmos ewig gegeben oder wie sie von Gott geschaffen ist, darzustellen und den
Abweichungen jeweils spezifische Begründungen zu geben. Diese Entparadoxierung der Paradoxie
ist in der vorhandenen Ordnung, für die keine Alternativen in Sicht sind, plausibel.“20
Seit Einführung des Buchdrucks hat sich die Gesellschaft jedoch modernisiert: sie hat die
stratifikatorische zu Gunsten einer funktionalen Differenzierung aufgegeben. Das war seit
dem 16. Jahrhundert notwendig geworden, weil der Buchdruck die Gesellschaft mit einem hohen
Maß an Überschusssinn konfrontiert hatte, der die Wirksamkeit der bisherigen Semantik
allmählich auflöste. Aufkommende semantische Alternativkonstruktionen in allen
Funktionsbereichen der Gesellschaft konnten von den Autoritäten nicht mehr dauerhaft
unterdrückt werden, weil die massenmediale Verbreitung von Kommunikation nicht unterbunden
werden konnte: man konnte Bücher zwar nachträglich verbieten, aber dann war die Wahrheit
bereits unwiderruflich bekannt.21
Eines der berühmtesten, diese Transformation markierenden Ereignisse ist wohl die Entdeckung
des heliozentrischen Weltbilds durch den Astronomen Nikolas Kopernikus, für dessen
Verbreitung Galileo Galilei in einem Inquisitionsprozess wohl noch verurteilt, allerdings
schon nicht mehr mit dem Tode, sondern lediglich mit Hausarrest bestraft wurde.22
Deutlich sind die Auswirkungen des Überschusssinns der Gutenberg-Galaxis auch an den
Veränderungen des gesellschaftlichen Integrationsmodus der Individuen zu beobachten. Ihre
soziale Stellung ergibt sich nun nicht mehr aus ihrer Herkunft, aus ihrer Geburt in eine
Familie, der bestimmte Standesprivilegien zustehen oder verwehrt sind, sondern aus einer
individuellen Karriere, die – zumindest prinzipiell – allen Individuen gleiche Chancen
einräumt, wenngleich durch Merkmale wie Herkunft, Geschlecht und Rasse durchaus beeinflusst.
Karriere heißt nun, dass die Integration in die Gesellschaft primär temporär orientiert ist
„und jeder Schritt abhängt von einem kontingenten […] Zusammenwirkung von
Selbstselektion und Fremdselektion.“23
Allgemein ändert sich mit der Auflösung der stratifikatorischen Ordnung und der beginnenden
funktionalen Ausdifferenzierung die zeitliche Orientierung der Gesellschaft im Ganzen.
Vergangenheit und Zukunft sind – wie man an den ständig vorkommenden
Alternativkonstruktionen der Welt ablesen kann – jetzt „nicht mehr durch Wesensformen mit
zugeordneten Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten immer schon verbunden“24, sondern von Entscheidungen
abhängig, die durch eine prinzipielle Kontingenz gekennzeichnet sind. Daraus ergibt sich
eine Instabilität der Kommunikationsverhältnisse, mit der die Gesellschaft umgehen muss. Sie
tut dies, indem sie Zusatzeinrichtungen entwickelt, die ihrerseits Stabilität aus ihrer
eigenen Instabilität gewinnen können. Gemeint sind symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien, die auf Unterscheidungen wie Eigentum/Nicht-Eigentum,
Macht/Machtlosigkeit, Wahrheit/Unwahrheit, und eben auch Recht/Unrecht basieren, und für die
jeweils spezifische, aber variable Programme bestimmen, welche Seite der Unterscheidung
jeweils gewählt werden muss. Bezogen auf das Recht heißt das: Normen werden jetzt als
Entscheidungen beobachtet, die auch anders hätten gefällt werden können, Recht wird als
positives Recht charakterisiert.
„Wenn diese Analyse auch nur im Groben zutrifft, muß dies Konsequenzen haben für das Thema
der Unverzichtbarkeit einer oder mehrerer fundamentaler Normen. Es wäre sicher voreilig,
hieraus auf ‚Dezisionismus‘, Relativismus oder grundsätzliche Beliebigkeit des ‚anything
goes‘ zu schließen. […] Man wird im Gegenteil erwarten müssen, daß auch eine derart
rekursive, nicht hierarchisch, sondern heterarchisch geordnete Struktur kontingenter
Operationen ‚Eigenwerte‘ erzeugt und ‚inviolate levels‘ projektiert, die ihrem Ordnungstypus
gerecht werden. Die Frage ist nur: in welchen Formen?“25
In der Moderne werden unverzichtbare Normen mit Hilfe von Werten begründet, die sich für die
Lösung des Problems des Reflexionsstopps eignen, weil durch sie höchstrelevante normative
Gehalte „nicht thesenförmig behauptet werden, sondern per implicationem mitlaufen.“26 Werte werden
als gemeinsam geteilte Hintergrundüberzeugungen vorausgesetzt, die nicht explizit diskutiert
werden müssen, ja, nicht explizit diskutiert werden dürfen, weil eine solche offene
Thematisierung immer die Möglichkeit beinhaltet, dass das Kommunikationsangebot abgelehnt
wird. Eine weitere Begründung für die Akzeptanz eines oder mehrerer Werte wird damit nicht
nur unnötig, sondern im Normalfall auch weitgehend unmöglich gemacht.
Die große Zahl an unterschiedlichen Werten wird durch eine Wertordnung mit Grundwerten
organisiert.“Hier werden dann Traditionsbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit,
Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität benutzt, um Sonderrang zu markieren.“27 Aber diese
Ordnung bildet keine vollständige Hierarchie ab, weshalb die unzähligen Werte leicht in
Konflikte geraten, für deren Lösung sie selbst dann keine Entscheidungskriterien
liefern können. Es ist unmöglich zu entscheiden, welche Werte anderen Werten immer
vorzuziehen sind. Ob beispielsweise Freiheit stets wichtiger ist als Sicherheit oder Frieden
Freiheit immer vorgezogen werden sollte, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Wohl können
Werte von ihren Gegenwerten unterschieden und dabei eine Seite der Unterscheidung präferiert
werden (Krieg/Frieden), aber verschiedene Werte „schließen einander nicht aus, sie lassen
daher immer auch das Hinzufügen neuer Werte zu.“28
Tatsächliche Wertkollisionen bleiben zwar auf Einzelfälle beschränkt, aber genau dies sind
laut Luhmann die wichtigen Situationen, in denen Werte ihre Entscheidungsrelevanz erweisen
müssten. Oder anders formuliert: „Sie verlieren ihren direktiven Wert genau dann, wenn er
benötigt wird.“29
Spitzenwertkollisionen lassen sich auf Grund ihrer Gleichwertigkeit der betroffenen Werte
nicht generell – zum Beispiel durch Aufhebungs- oder Ausnahmeregelungen – lösen, und zu
ihrer Entscheidung kommt es auf die Informationen an, die sich aus der konkreten Situation
gewinnen lassen. Das Verhältnis von Werten und Entscheidungen beschreibt mithin eine ideale
Paradoxie: Wenn man Entscheidungen auf ein Wertfundament stellt, um ihnen einen Rückhalt im
Unbezweifelbaren zu geben, gibt man das Fundament durch die Entscheidung gerade der
Kontingenz Preis, weil die Entscheidung über die Beachtung von Werten im Entscheidungsfall
nicht unbezweifelbar geregelt sein kann.30
Aber Entscheidungen müssen getroffen auch in solchen Fällen getroffen werden, denn die
„Unverzichtbarkeit der Norm – das ist die Autopoiesis des Systems.“31 Eine mögliche Lösung des Problems
ist eine Entscheidungspraxis wie sie im Common Law typisch ist: gerichtliche Entscheidungen
werden als Präzedenzfälle behandelt und haben dann Einfluss auf künftige Entscheidungen,
ohne diese vollständig zu regeln.
„Auf keinen Fall kann aus der paradoxen Fundierung des Rechts auf Beliebigkeit der
Entscheidungen geschlossen werden und auch nicht auf externe Einflüsse auf die
Rechtspraxis.“32
Entscheidungen müssen im konkreten Fall getroffen werden und sich an den systemintern
erzeugten Vorgaben orientieren. Solange dies (weiterhin) gelingt, solange das System seine
„Autonomie strukturieren, Selbstdetermination und operative Schließung“33 sicherstellen
kann, hat es offenbar eine Möglichkeit gefunden, mit dem Mangel an unverzichtbaren Normen
umzugehen. Luhmann weist darauf hin, dass durch eine solche, in der Praxis der
Rechtsprechung schon durchaus etablierte Vorgehensweise das Problem von unverzichtbaren
Normen bereits durchaus effizient überwunden wird. Auch im Fall von Tragic Choices, lässt
sich dann in diese Richtung nach möglichen (Einzelfall-)Lösungen suchen, etwa durch eine
Erlaubnis der rechtswidrigen Durchbrechung des Rechts in bestimmten Fällen. Im eingangs
beschriebenen Fall der Folter von Terroristen zum Zweck der Gewinnung von Informationen, die
möglicherweise Menschenleben retten könnten, könnte das laut Luhmann bedeuten:
„Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der
Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung, Verschiebung der
Unterscheidung Recht/Unrecht in die Option des Opfers, Held oder Verräter zu sein. Insgesamt
keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut
und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert.“34
Schließlich weist Luhmann noch darauf hin, dass sich „derzeit eine steigende Aufmerksamkeit
für Probleme der Menschenrechte beobachten“35
ließe, die sich durch eine hohe Frequenz massenmedialer Berichterstattung ausdrücke. Er
interpretiert das als eine Generierung von Normen durch Skandalisierung von Ereignissen, die
– unabhängig von den kodifizierten Normen – allein durch die berichtete Dramatik (z.B. von
rechtswidrige Verhaftungen, Folterungen oder politischen Morden) auf einer unmittelbaren
Ebene stattfindet.
„Die Normgenese folgt dem Durkheim-Modell, sie bedient sich der colère publice. Eine
juristische Formgebung, eine völkerrechtliche Regulierung kann daran nur anschließen, aber
nicht selbst die Rolle einer Rechtsquelle übernehmen.“36
Eine in Bezug auf solche Probleme übermäßige Bemühung der Menschenrechte als
Argumentationsgrundlage laufe laut Luhmann aber Gefahr, eine Inflationierung zu forcieren
und den Eindruck zu manifestieren, die Menschenrechte würden grundsätzlich nicht
eingehalten. Seine Empfehlung: eine Konzentration auf diejenigen Fälle, die „welteinheitlich
erfahrene Menschenrechtsverletzungen“37
darstellen, also: „Unrecht auf jeden Fall.“38
An dieser Stelle drängt sich jedoch eine andere Beschreibung des Sachverhalts auf, in der die
massenmediale Aufmerksamkeit für die Menschenrechte nicht deren Unbegründbarkeit markiert,
sondern, ganz im Gegenteil, eine geradezu universelle Akzeptanz der sie begründenden Werte.
Luhmann geht möglicherweise zu Unrecht davon aus, dass Wertkonflikte dazu führen, dass die
grundsätzliche Unbegründbarkeit von Normen wegen ihres positiven (und damit kontingenten)
Charakters tatsächlich gesellschaftliche Überzeugungskraft besitzt. Es stimmt, Grundwerte
bieten keine Entscheidungsgrundlage im Fall von Wertekonflikten (und damit im Fall von
Tragic Choices), aber auch nur dann. Und diese Fälle sind, wie Luhmann es selbst sagt:
Ausnahmen.39
Bezogen auf das zu Beginn erwähnte Beispiel dominieren nämlich Beobachtungen, welche die
Entscheidungen mit Hinweis auf die Grundwerte der westlichen Welt verurteilen. Bezeichnend
ist, dass sie die Tragik der Situation dabei durchaus wahrnehmen, aber dennoch an einer
Einschätzung über die Unverzichtbarkeit der missachteten Normen festhalten. So betont
Phillippe Sands in Torture Team beispielsweise:
„I’ve no doubt that the fear that motivated the decisions may have been palpable and real and
that many people on the ground at Guantánamo acted in good faith. But did it justify the
actions that were taken? […]. In any event, neither Geneva nor the Torture Convention
allowed the total constraints on cruelity to be undone by the necessities, real or
imagined.“40
Nicht nur die Form des Werts bleibt offenbar von den Konflikten unberührt, sondern
ebenfalls ihre konkrete Semantik und damit ihre Wirksamkeit.41 Von Problemen
im Ausnahmefall lässt sich die moderne Suche nach universell gültigen Begründungen also
nicht beirren. Luhmanns Beobachtung eines „unstillbaren Hunger[s] nach Aprioris“42 ist durchaus
wörtlich zu nehmen. Der Ursprung dieses ungezügelten Appetits ist in den
Komplexitätsreduktionsmechanismen der Moderne, die als symbolisch generalisierte
Kommunikationsmedien zur Verfügung stehen, zu suchen: Deren Programme – die den Zweck haben,
zu beschreiben, welche Seite der Unterscheidung der jeweiligen Funktionsmedien zu wählen ist
– sind zwar nur temporär bindend, im jeweiligen Moment aber für alle.43 Diese Geltung
muss plausibel begründet werden und genau das leisten Aprioris. Zu diesem Zweck entwirft die
Moderne denn auch das transzendentale Subjekt, das im Gegensatz zu Luhmanns Einschätzung
seinerzeit noch nicht versagt hatte.44
Und noch Habermas sucht mit seinem quasi transzendentalen Konzept der Lebenswelt genau nach
einer solchen Begründung, auf deren Grundlage sich Wahrheit und Vernunft unabhängig von
bewusstseinsinternen Konstruktionsleistungen eindeutig bestimmen lassen.45
So betrachtet mag es fast scheinen, als hätte Luhmann seine Diagnose verfrüht gestellt. Sein
Vorschlag zur Behandlung des Problems unverzichtbarer Normen wurde, wie die gesamte
Systemtheorie, ja die philosophischen Konzepte des Konstruktivismus und der Dekonstruktion
überhaupt, von der Moderne und ihrer „Tradition […] einer Fehlsteuerung der
Problemstellung“46
als Affront behandelt und weitestgehend ignoriert. Damit soll jedoch keinesfalls gesagt
sein, dass die Theorie nicht halte, was sie verspricht – Luhmanns Diagnosen sind durchaus
plausibel und erhalten seit Beginn des 21. Jdh. zu Recht zunehmend mehr Beachtung, und seine
Beobachtungsangebote könnten gerade jetzt passend sein: Dirk Baecker schlägt in Studien
zur nächsten Gesellschaft vor, jene Kulturform, die sich mit dem Internet
entwickelt, als Kulturform der Form selbst zu bezeichnen.47 Diesen Vorschlag begreifen wir
als einen Denkanstoß: wie sinnvoll wäre es anzunehmen, dass Luhmanns Lösungen gerade in der
nächsten Gesellschaft auf Grund einer, von der modernen Form abweichenden primären
Differenzierung höchst aktuell sein könnten? Zumindest verhärten sich allmählich die
Indizien dafür, dass sich in der netzwerkförmig angelegten Kommunikationsstruktur, die mit
dem Internet entstanden ist, Vorstellungen über letztgültige Prinzipien tatsächlich nicht
mehr halten lassen.
Quellen
Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007
(=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1856).
Fölsing, Albrecht: Galileo Galilei: Ein Prozess ohne Ende. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch
Verlag 1996.
Goldsmith, Jack: The Terror Presidency. Law and Judgment inside the Bush Administration. New
York, London: W.W. Norton & Company 2007.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (2
Bd.) (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1175).
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp 1999 (2 Bd.)
(=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1360).
Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Aufsätze und Reden. Hrsg.
von Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2001. S.76-93.
Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: Die Moral
der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008
(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1871). S.228-269.
Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Aufl.
Stuttgart: Lucius & Lucius 2000 (=UTB 2185).
Mayer, Jane: The Dark Side. The Inside Story of How the War on Terror Turned into a War on
American Ideals. New York, London, u.a.: Doubleday 2008.
Sands, Philippe: Torture Team. Rumsfeld‘s Memo and the Betrayal of American Values. New York:
Palgrave Macmillan 2008.
Spencer-Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. 2. Aufl. Lübeck: Joh. Bohmeier Verlag
1999.
Online-Quellen
Amnesty International Jahresberichte der Jahre 1998, 1999 und 2000.
URL: http://www.amnesty.de. (31.08.2010).
Lewis, A. Neil: Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base. In: The New York Times
(17.10.2004).
URL: http://www.nytimes.com/2004/10/17/politics/17gitmo.html. (31.08.2010).
Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom 28.04.2004.
URL: http://www.cbsnews.com/stories/ 2004/04/27/60II/main614063.shtml. (31.08.2010).
Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom
28.04.2004. ↩
Vgl. für viele Lewis, A. N.: Broad Use of Harsh Tactics Is Described
at Cuba Base. ↩
Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom
28.04.2004. ↩
Vgl. u.a. die Hinweise in den Jahresberichten von Amnesty
International 1998, 1999 und 2000 abzurufen unter http://www.amnesty.de. ↩
Ob diese offizielle Darstellung ausreichend plausibel ist oder nicht,
soll hier nicht entschieden werden. Es geht hier nicht um die Bewertung von
Alternativdarstellungen, sondern darum, die allgemeine moralische Entrüstung zu
verstehen, welche die Ereignisse in den Rang eines Skandals erhob. ↩
Die Frage, ob Informationen, die im Zusammenhang mit Folter gewonnen
werden können, überhaupt nützlich sind, ist selbstverständlich ungeklärt. Aber
gerade deshalb kann diese Frage im konkreten Fall nicht im Vorfeld beantwortet
werden, weil man die Nützlichkeit der gewonnenen Informationen erst bewerten kann,
wenn die Folter bereits stattgefunden hat. ↩
Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare
Normen? S.229. ↩
Sands, P.: Torture Team. S.224. Vergleiche dazu auch Mayer, J.: The
Dark Side. S.327f: „(…) the Bush Administration invoked the fear flowing from
the attacks on September 11 to institute a policy of deliberate cruelty that would
have been unthinkable on September 10.“ ↩
Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch
unverzichtbare Normen? S.242. ↩
Nur so können die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
wirksam sein. Vgl. Luhmann, N.: Vertrauen. ↩
Vgl. Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch
unverzichtbare Normen? S.232. Und die Hinweise zur konkreten massenmedialen
Berichterstattung: „Man stellt vermeintlich grundlegende Bedürfnisse und Interessen
‚des‘ Menschen zusammen und fordert Abhilfe.“ Ebd. S.250. ↩
Vgl. Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. ↩
Luhmann, N.: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare
Normen? S.230. ↩
Vgl. Baecker, D.: Studien zur nächsten Gesellschaft. ↩
Stephan Frühwirt, Ulrike Weichert & Arthur Coffin
Tragische Entscheidungen
— Die Rückhaltlosigkeit unverzichtbarer Normen
„According to the U.S. Army, one Iraqi prisoner was told to stand on a box with his head covered, wires attached to his hands. He was told that if he fell off the box, he would be electrocuted. […] In some [pictures], the male prisoners are positioned to simulate sex with each other. And in most of the pictures, the Americans are laughing, posing, pointing, or giving the camera a thumbs-up.“1
Mit diesen Worten wurden am 28.04.2004 in der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News jene Bilder kommentiert, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghuraib, einem Militärgefängnis unter US-amerikanischer Führung im Irak, dokumentieren und den Beginn einer, weltweite Aufmerksamkeit erregenden Serie von Enthüllungen zahlreicher weiterer Vorfälle dieser Art u.a. auch im US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba markieren.2 Was die Entrüstung der Öffentlichkeit im Anschluss an die Berichte der darauffolgenden Wochen und Monate gipfeln ließ, war eine offensichtlich sowohl moralische als auch rechtliche Widersprüchlichkeit, die sich aus dem Kontext der Vorfälle ergab und die der frühere Marine-Oberst Bill Cowan noch in der Sendung am 28.04.2004 wie folgt formulierte:
„We went into Iraq to stop things like this from happening, and indeed, here they are happening under our tutelage […].“3
Das Problem, das in seiner Bedeutung über die schon als solche schwer erträglichen Gewaltakte selbst hinausging, lag darin, dass man etwas getan hatte, das gerade das, was man getan hatte, beenden sollte, oder, anders formuliert: dass an gerade dem Ort Folterungen stattgefunden hatten, dessen Chronik der Folter4 als einer der Gründe angegeben worden war, welche die Notwendigkeit einer, zuvor scharf kritisierten militärischen Intervention hatten legitimieren sollen.
Wie hatte es dazu kommen können? Abgesehen von möglichen Motiven der reinen Befriedigung von Gewaltphantasien einzelner Militärangehöriger, die an der konkreten Ausführung der Maßnahmen beteiligt waren und daraus sich ergebenden Verdachtsmomenten hinsichtlich einer potenziellen Unaufrichtigkeit von Verantwortlichen, und abgesehen auch von Spekulationen über die Frage, inwiefern die humanistischen Ziele für die militärische Intervention überhaupt primärer Natur gewesen waren, lautete die offizielle Erklärung, dass man durch die getroffenen Maßnahmen Informationen erzwingen wollte, mit Hilfe derer neuerliche Anschläge hätten vermieden werden sollen.5 Man hatte also die Sicherheit der Bevölkerung und die Menschenwürde der Gefangenen gegeneinander abgewogen und war zu dem Entschluss gekommen, dass zu viele Menschenleben (einschließlich die der US-amerikanischen Soldaten) auf dem Spiel stünden, als dass auf Praktiken verzichtet werden könnte, die gegen die Genfer Menschenrechtskonvention verstoßen würden. Falls diese Erklärung zutrifft, dann wäre der bewusste Verzicht auf solche Informationen6 angesichts fortdauernder Terroranschläge im Irak und in Afghanistan genauso falsch gewesen, wie es die Missachtung der Genfer Menschenrechtskonvention schließlich war. Die geschilderte Situation entspricht einem Entscheidungsproblem, das Niklas Luhman in dem Aufsatz Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? als Tragic Choice7 bezeichnet: gemeint sind Entscheidungen, die nicht richtig getroffen werden können und darum falsch sind, wenn man sie trifft.
Die US-amerikanische Regierung hatte unter dem Druck der Ereignisse, den Jack Goldsmith, der von Oktober 2003 bis Juli 2004 United States Assistant Attorney General im Office of Legal Counsel im US-Justizministerium war, so beschreibt:
„Everyone in the administration with access to highly classified intelligence in threats to the homeland was scared of another deadly attack, and of not knowing how to prevent it. This fear […] of not doing enough to stop the next attack, and an equally present fear of doing too much and ending up before a court or grand jury – lie behind the Bush administration’s controversial legal policy decisions about the Terrorist Surveillance Program, the Geneva Conventions, military commissions, interrogation techniques, Guantanamo Bay, and more“8,
unter diesem Druck hatte sie alles falsch gemacht, weil es nur falsch gemacht hatte werden können. Wenngleich also die moralische Empörung über den Einsatz von Folter als gesellschaftsweiter Konsens beobachtet werden konnte, weil die Öffentlichkeit Grund zu einer moralischen Verurteilung hatte, unabhängig davon, ob die Verdachtsmomente hinsichtlich der Aufrichtigkeit der offiziellen Begründungen gerechtfertigt waren oder nicht, wenngleich man also den Eindruck hatte, dass der Umgang mit der Angelegenheit nur so und nicht anders möglich war, konnte das dahinter liegende Problem offenbar keineswegs so eindeutig entschieden werden. Zumal in rechtlicher Hinsicht.
Unter rechtlichen Gesichtspunkten fehlt im Fall von Tragic Choices eine universalisierte Verhaltenserwartung in Form einer unverzichtbaren, folgeindifferenten Norm, an die der Verantwortliche sich halten könnte, um rechtmäßig zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Stattdessen ist „man […] im Unrecht, wenn man zwischen Recht und Unrecht unterscheidet.“9 Dieser Mangel an unbezweifelbaren Möglichkeiten der Orientierung ist laut Luhmann allerdings nicht etwa Folge eines Versäumnisses des Rechtssystems und damit durch legislative Bemühungen zu beheben und er lässt sich auch nicht durch moralische Unterscheidungen substituieren.10 Stattdessen sei das Problem, das im Zusammenhang mit der Begründung des positiven Rechts der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auftritt, unvermeidlich. Auch eine soziologische Analyse des Sachverhalts, so wie Luhmann sie unternimmt, könne deshalb keine einwandfreie Entscheidung liefern, wenngleich doch aber dazu beitragen, ein besseres Verständnis des Sachverhalts zu gewinnen.
Die Bedeutung des Normativen für die Gesellschaft besteht aus einer funktional-analytischen Perspektive in der Kondensation und Generalisierung von Verhaltenserwartungen, die kontrafaktisch angelegt sind und auch im Enttäuschungsfall durchgehalten werden.11 Das Rechtssystem differenziert sich gesellschaftlich aus, indem bestimmte Erwartungen bezüglich möglicher Handlungen jeweils durch bestimmte Normen, die allen bekannt sind und im Bedarfsfall durch Sanktionen gedeckt werden, zum Ausdruck gebracht werden. Das in den Normen kodifizierte Recht als Medium des Rechtssystems beschreibt Luhmann als Realitätsverdoppelung,
„so, wie man zwischen Spiel und Ernst unterscheiden kann oder nach der Evolution von Sprache zwischen den Sprachzeichen und dem, was sie bezeichnen; und Ähnliches gilt für die Annahme eines religiösen Hintergrundsinns der phänomenalen Welt oder für die Unterscheidung des Kunstsystems zwischen fiktionaler und realer Realität – wie immer man sich in solchen Fällen dann die Kopplung und die Möglichkeiten einer Grenzüberschreitung vorstellt.“12
Bei ausreichendem Abstraktionsniveau lässt sich feststellen, dass eine Realitätsverdoppelung bei der Evolution aller Systeme stattfindet, weil sie sich überhaupt nur schließen können, indem sie bestimmte, eigene Unterscheidungen, mit deren Hilfe allein sie Beobachtungen anzustellen in der Lage sind, in die sonst unterschiedslose Welt einführen.13 Funktionssysteme müssen ihre Realitätsverdoppelung jedoch begründen, weil sie darauf angewiesen sind, dass Bewusstseinssysteme ihre fiktionalen Unterscheidungen nutzen, um Mitteilungsabsichten zu entwickeln; und dies gelingt wiederum nur dann, wenn die betreffenden Bewusstseinssysteme davon ausgehen können, dass ihre kommunikativ verfassten Mitteilungsabsichten nicht nur verstanden, sondern auch akzeptiert werden.14 Bezogen auf das vorliegende Problem lautet die Frage dementsprechend: „ob und mit welchen semantischen Mitteln das Rechtssystem die Geltung bzw. Unverzichtbarkeit von Normen begründen kann.“15
Die ursprüngliche Antwort auf diese Frage war bis zum Übergang in die Moderne das Naturrecht gewesen: Aristoteles unterscheidet grundsätzlich zwischen einem natürlichen Zustand als Perfektion der teleologischen Ordnung und einem naturwidrigen Zustand der Natur. Normalerweise erreicht die Natur den in ihr selbst angelegten perfekten, gleichsam göttlichen Zustand. Nur, wenn sie diesen in Ausnahmefällen verfehlt, ist es nötig, mit dem am Naturgesetz orientierten Gesetz (nomos) die „defizienten Restbestände“16 zu überwinden. Auf diese Weise wird die Ordnung des Hauses und der Stadt, die qua ihrer Verfasstheit als hergestellte Rechtsordnungen eigentlich dem Bereich der Technik zugeordnet werden müssten, zu einem Naturrecht. Die Begründung einer Unverzichtbarkeit ergibt sich dabei aus dem Deckungsverhältnis zwischen natürlicher, göttlich perfekter Normalität und Normativität. Wer will sich schon mit Göttern anlegen, wenn er nicht gerade Zeit für eine 10-jährige Bootstour hat?
Auch im römischen Recht wird der zunächst vorhandene Unterschied zwischen natürlicher Ordnung und zivilisatorischer Entwicklung, der das zivile Recht dem Naturrecht grundsätzlich gegenüberstellt, letztlich aufgelöst: Zwar wird die zivilisatorische Entwicklung als Abweichung vom Naturrecht begriffen, weil sie das natürliche Verhalten der Lebewesen einschränkt; zugleich jedoch wird diese Einschränkung selbst mit einer Semantik der Natürlichkeit beschrieben, wodurch die Paradoxie, die jeder Unterscheidung zugrunde liegt, entfaltet werden kann: das Unterschiedene ist identisch, das Identische ist unterschiedlich.17 Laut Luhmann setzt sich dieses Phänomen im 18. Jahrhundert mit der Lehre vom Sozialvertrag und einem paradoxierten Freiheitsbegriff, der vor allem besagt, dass zur Freiheit auch der Verzicht auf Freiheit gehört, fort: die Auflösung erfolgt dann über die Unterscheidung von Freiheit und Willkür.
„In dieser Fassung hat die historische Semantik des Naturrechts die Feudalordnung und ihre Auflösung, den neu entstehenden Territorialstaat und den Übergang zum absolutistischen Staatsverständnis begleiten können; und auch der aufgeklärte Absolutismus, ja selbst der Übergang zum konstitutionellen Staat liberaler Prägung bedient sich noch des Naturrechtsgedankens.“18
Als Naturrecht war das Recht jeweils mit Begründungen verbunden, die ein weiteres Nachfragen nach etwaigen Begründungen der Begründungen nicht zuließen: in der Antike „war dies durch Ursprungsmythen garantiert gewesen […] [in] der frühen Neuzeit übernimmt die […] Metapher der ‚Rechtsquelle‘ diese Funktion.“19 Wenngleich in solchen Konstruktionen zum Ausdruck kam, dass die jeweiligen Normen aus sich selbst heraus Geltung besitzen und unverzichtbar sein sollten, ergab sich jedoch eine tatsächlich ausreichende Plausibilität hinsichtlich der Geltung und Akzeptanz aus solchen Reflexionsstopps allein nicht.
Aus soziologischer Perspektive darf man vermuten, dass solche semantischen Konstruktionen mit gesellschaftlichen Strukturen einhergehen müssen, um längere Zeiträume zu überdauern. Im Fall des Naturrechts finden wir solche Strukturen sowohl für die antike, wie auch die mittelalterliche Konstruktion des Rechtsgedankens in einer stratifikatorischen Differenzierung mit einer herrschenden Adelsschicht, an deren Spitzen Autoritäten über die Durchsetzung des Rechts und seiner Semantik wachen, indem sie Zuwiderhandlungen sanktionieren. Dass solche Gesellschaften mit, im Vergleich zu segmentären Gesellschaften höheren Komplexitätsanforderungen ein ziviles Recht benötigen, welches das wie auch immer konkret vorgestellte ursprüngliche Naturrecht ergänzt, ist leicht nachvollziehbar.
„Daß diese Ordnung als Abweichung vom Naturrecht deklariert werden muß, mag auffallen. Aber das reicht offenbar aus, um die Beziehung zur Natur, wie sie in einem Essenzenkosmos ewig gegeben oder wie sie von Gott geschaffen ist, darzustellen und den Abweichungen jeweils spezifische Begründungen zu geben. Diese Entparadoxierung der Paradoxie ist in der vorhandenen Ordnung, für die keine Alternativen in Sicht sind, plausibel.“20
Seit Einführung des Buchdrucks hat sich die Gesellschaft jedoch modernisiert: sie hat die stratifikatorische zu Gunsten einer funktionalen Differenzierung aufgegeben. Das war seit dem 16. Jahrhundert notwendig geworden, weil der Buchdruck die Gesellschaft mit einem hohen Maß an Überschusssinn konfrontiert hatte, der die Wirksamkeit der bisherigen Semantik allmählich auflöste. Aufkommende semantische Alternativkonstruktionen in allen Funktionsbereichen der Gesellschaft konnten von den Autoritäten nicht mehr dauerhaft unterdrückt werden, weil die massenmediale Verbreitung von Kommunikation nicht unterbunden werden konnte: man konnte Bücher zwar nachträglich verbieten, aber dann war die Wahrheit bereits unwiderruflich bekannt.21 Eines der berühmtesten, diese Transformation markierenden Ereignisse ist wohl die Entdeckung des heliozentrischen Weltbilds durch den Astronomen Nikolas Kopernikus, für dessen Verbreitung Galileo Galilei in einem Inquisitionsprozess wohl noch verurteilt, allerdings schon nicht mehr mit dem Tode, sondern lediglich mit Hausarrest bestraft wurde.22
Deutlich sind die Auswirkungen des Überschusssinns der Gutenberg-Galaxis auch an den Veränderungen des gesellschaftlichen Integrationsmodus der Individuen zu beobachten. Ihre soziale Stellung ergibt sich nun nicht mehr aus ihrer Herkunft, aus ihrer Geburt in eine Familie, der bestimmte Standesprivilegien zustehen oder verwehrt sind, sondern aus einer individuellen Karriere, die – zumindest prinzipiell – allen Individuen gleiche Chancen einräumt, wenngleich durch Merkmale wie Herkunft, Geschlecht und Rasse durchaus beeinflusst. Karriere heißt nun, dass die Integration in die Gesellschaft primär temporär orientiert ist „und jeder Schritt abhängt von einem kontingenten […] Zusammenwirkung von Selbstselektion und Fremdselektion.“23
Allgemein ändert sich mit der Auflösung der stratifikatorischen Ordnung und der beginnenden funktionalen Ausdifferenzierung die zeitliche Orientierung der Gesellschaft im Ganzen. Vergangenheit und Zukunft sind – wie man an den ständig vorkommenden Alternativkonstruktionen der Welt ablesen kann – jetzt „nicht mehr durch Wesensformen mit zugeordneten Notwendigkeiten/Unmöglichkeiten immer schon verbunden“24, sondern von Entscheidungen abhängig, die durch eine prinzipielle Kontingenz gekennzeichnet sind. Daraus ergibt sich eine Instabilität der Kommunikationsverhältnisse, mit der die Gesellschaft umgehen muss. Sie tut dies, indem sie Zusatzeinrichtungen entwickelt, die ihrerseits Stabilität aus ihrer eigenen Instabilität gewinnen können. Gemeint sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die auf Unterscheidungen wie Eigentum/Nicht-Eigentum, Macht/Machtlosigkeit, Wahrheit/Unwahrheit, und eben auch Recht/Unrecht basieren, und für die jeweils spezifische, aber variable Programme bestimmen, welche Seite der Unterscheidung jeweils gewählt werden muss. Bezogen auf das Recht heißt das: Normen werden jetzt als Entscheidungen beobachtet, die auch anders hätten gefällt werden können, Recht wird als positives Recht charakterisiert.
„Wenn diese Analyse auch nur im Groben zutrifft, muß dies Konsequenzen haben für das Thema der Unverzichtbarkeit einer oder mehrerer fundamentaler Normen. Es wäre sicher voreilig, hieraus auf ‚Dezisionismus‘, Relativismus oder grundsätzliche Beliebigkeit des ‚anything goes‘ zu schließen. […] Man wird im Gegenteil erwarten müssen, daß auch eine derart rekursive, nicht hierarchisch, sondern heterarchisch geordnete Struktur kontingenter Operationen ‚Eigenwerte‘ erzeugt und ‚inviolate levels‘ projektiert, die ihrem Ordnungstypus gerecht werden. Die Frage ist nur: in welchen Formen?“25
In der Moderne werden unverzichtbare Normen mit Hilfe von Werten begründet, die sich für die Lösung des Problems des Reflexionsstopps eignen, weil durch sie höchstrelevante normative Gehalte „nicht thesenförmig behauptet werden, sondern per implicationem mitlaufen.“26 Werte werden als gemeinsam geteilte Hintergrundüberzeugungen vorausgesetzt, die nicht explizit diskutiert werden müssen, ja, nicht explizit diskutiert werden dürfen, weil eine solche offene Thematisierung immer die Möglichkeit beinhaltet, dass das Kommunikationsangebot abgelehnt wird. Eine weitere Begründung für die Akzeptanz eines oder mehrerer Werte wird damit nicht nur unnötig, sondern im Normalfall auch weitgehend unmöglich gemacht.
Die große Zahl an unterschiedlichen Werten wird durch eine Wertordnung mit Grundwerten organisiert.“Hier werden dann Traditionsbegriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität benutzt, um Sonderrang zu markieren.“27 Aber diese Ordnung bildet keine vollständige Hierarchie ab, weshalb die unzähligen Werte leicht in Konflikte geraten, für deren Lösung sie selbst dann keine Entscheidungskriterien liefern können. Es ist unmöglich zu entscheiden, welche Werte anderen Werten immer vorzuziehen sind. Ob beispielsweise Freiheit stets wichtiger ist als Sicherheit oder Frieden Freiheit immer vorgezogen werden sollte, lässt sich nicht endgültig entscheiden. Wohl können Werte von ihren Gegenwerten unterschieden und dabei eine Seite der Unterscheidung präferiert werden (Krieg/Frieden), aber verschiedene Werte „schließen einander nicht aus, sie lassen daher immer auch das Hinzufügen neuer Werte zu.“28 Tatsächliche Wertkollisionen bleiben zwar auf Einzelfälle beschränkt, aber genau dies sind laut Luhmann die wichtigen Situationen, in denen Werte ihre Entscheidungsrelevanz erweisen müssten. Oder anders formuliert: „Sie verlieren ihren direktiven Wert genau dann, wenn er benötigt wird.“29
Spitzenwertkollisionen lassen sich auf Grund ihrer Gleichwertigkeit der betroffenen Werte nicht generell – zum Beispiel durch Aufhebungs- oder Ausnahmeregelungen – lösen, und zu ihrer Entscheidung kommt es auf die Informationen an, die sich aus der konkreten Situation gewinnen lassen. Das Verhältnis von Werten und Entscheidungen beschreibt mithin eine ideale Paradoxie: Wenn man Entscheidungen auf ein Wertfundament stellt, um ihnen einen Rückhalt im Unbezweifelbaren zu geben, gibt man das Fundament durch die Entscheidung gerade der Kontingenz Preis, weil die Entscheidung über die Beachtung von Werten im Entscheidungsfall nicht unbezweifelbar geregelt sein kann.30
Aber Entscheidungen müssen getroffen auch in solchen Fällen getroffen werden, denn die „Unverzichtbarkeit der Norm – das ist die Autopoiesis des Systems.“31 Eine mögliche Lösung des Problems ist eine Entscheidungspraxis wie sie im Common Law typisch ist: gerichtliche Entscheidungen werden als Präzedenzfälle behandelt und haben dann Einfluss auf künftige Entscheidungen, ohne diese vollständig zu regeln.
„Auf keinen Fall kann aus der paradoxen Fundierung des Rechts auf Beliebigkeit der Entscheidungen geschlossen werden und auch nicht auf externe Einflüsse auf die Rechtspraxis.“32
Entscheidungen müssen im konkreten Fall getroffen werden und sich an den systemintern erzeugten Vorgaben orientieren. Solange dies (weiterhin) gelingt, solange das System seine „Autonomie strukturieren, Selbstdetermination und operative Schließung“33 sicherstellen kann, hat es offenbar eine Möglichkeit gefunden, mit dem Mangel an unverzichtbaren Normen umzugehen. Luhmann weist darauf hin, dass durch eine solche, in der Praxis der Rechtsprechung schon durchaus etablierte Vorgehensweise das Problem von unverzichtbaren Normen bereits durchaus effizient überwunden wird. Auch im Fall von Tragic Choices, lässt sich dann in diese Richtung nach möglichen (Einzelfall-)Lösungen suchen, etwa durch eine Erlaubnis der rechtswidrigen Durchbrechung des Rechts in bestimmten Fällen. Im eingangs beschriebenen Fall der Folter von Terroristen zum Zweck der Gewinnung von Informationen, die möglicherweise Menschenleben retten könnten, könnte das laut Luhmann bedeuten:
„Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung, Verschiebung der Unterscheidung Recht/Unrecht in die Option des Opfers, Held oder Verräter zu sein. Insgesamt keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert.“34
Schließlich weist Luhmann noch darauf hin, dass sich „derzeit eine steigende Aufmerksamkeit für Probleme der Menschenrechte beobachten“35 ließe, die sich durch eine hohe Frequenz massenmedialer Berichterstattung ausdrücke. Er interpretiert das als eine Generierung von Normen durch Skandalisierung von Ereignissen, die – unabhängig von den kodifizierten Normen – allein durch die berichtete Dramatik (z.B. von rechtswidrige Verhaftungen, Folterungen oder politischen Morden) auf einer unmittelbaren Ebene stattfindet.
„Die Normgenese folgt dem Durkheim-Modell, sie bedient sich der colère publice. Eine juristische Formgebung, eine völkerrechtliche Regulierung kann daran nur anschließen, aber nicht selbst die Rolle einer Rechtsquelle übernehmen.“36
Eine in Bezug auf solche Probleme übermäßige Bemühung der Menschenrechte als Argumentationsgrundlage laufe laut Luhmann aber Gefahr, eine Inflationierung zu forcieren und den Eindruck zu manifestieren, die Menschenrechte würden grundsätzlich nicht eingehalten. Seine Empfehlung: eine Konzentration auf diejenigen Fälle, die „welteinheitlich erfahrene Menschenrechtsverletzungen“37 darstellen, also: „Unrecht auf jeden Fall.“38
An dieser Stelle drängt sich jedoch eine andere Beschreibung des Sachverhalts auf, in der die massenmediale Aufmerksamkeit für die Menschenrechte nicht deren Unbegründbarkeit markiert, sondern, ganz im Gegenteil, eine geradezu universelle Akzeptanz der sie begründenden Werte. Luhmann geht möglicherweise zu Unrecht davon aus, dass Wertkonflikte dazu führen, dass die grundsätzliche Unbegründbarkeit von Normen wegen ihres positiven (und damit kontingenten) Charakters tatsächlich gesellschaftliche Überzeugungskraft besitzt. Es stimmt, Grundwerte bieten keine Entscheidungsgrundlage im Fall von Wertekonflikten (und damit im Fall von Tragic Choices), aber auch nur dann. Und diese Fälle sind, wie Luhmann es selbst sagt: Ausnahmen.39 Bezogen auf das zu Beginn erwähnte Beispiel dominieren nämlich Beobachtungen, welche die Entscheidungen mit Hinweis auf die Grundwerte der westlichen Welt verurteilen. Bezeichnend ist, dass sie die Tragik der Situation dabei durchaus wahrnehmen, aber dennoch an einer Einschätzung über die Unverzichtbarkeit der missachteten Normen festhalten. So betont Phillippe Sands in Torture Team beispielsweise:
„I’ve no doubt that the fear that motivated the decisions may have been palpable and real and that many people on the ground at Guantánamo acted in good faith. But did it justify the actions that were taken? […]. In any event, neither Geneva nor the Torture Convention allowed the total constraints on cruelity to be undone by the necessities, real or imagined.“40
Nicht nur die Form des Werts bleibt offenbar von den Konflikten unberührt, sondern ebenfalls ihre konkrete Semantik und damit ihre Wirksamkeit.41 Von Problemen im Ausnahmefall lässt sich die moderne Suche nach universell gültigen Begründungen also nicht beirren. Luhmanns Beobachtung eines „unstillbaren Hunger[s] nach Aprioris“42 ist durchaus wörtlich zu nehmen. Der Ursprung dieses ungezügelten Appetits ist in den Komplexitätsreduktionsmechanismen der Moderne, die als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zur Verfügung stehen, zu suchen: Deren Programme – die den Zweck haben, zu beschreiben, welche Seite der Unterscheidung der jeweiligen Funktionsmedien zu wählen ist – sind zwar nur temporär bindend, im jeweiligen Moment aber für alle.43 Diese Geltung muss plausibel begründet werden und genau das leisten Aprioris. Zu diesem Zweck entwirft die Moderne denn auch das transzendentale Subjekt, das im Gegensatz zu Luhmanns Einschätzung seinerzeit noch nicht versagt hatte.44 Und noch Habermas sucht mit seinem quasi transzendentalen Konzept der Lebenswelt genau nach einer solchen Begründung, auf deren Grundlage sich Wahrheit und Vernunft unabhängig von bewusstseinsinternen Konstruktionsleistungen eindeutig bestimmen lassen.45
So betrachtet mag es fast scheinen, als hätte Luhmann seine Diagnose verfrüht gestellt. Sein Vorschlag zur Behandlung des Problems unverzichtbarer Normen wurde, wie die gesamte Systemtheorie, ja die philosophischen Konzepte des Konstruktivismus und der Dekonstruktion überhaupt, von der Moderne und ihrer „Tradition […] einer Fehlsteuerung der Problemstellung“46 als Affront behandelt und weitestgehend ignoriert. Damit soll jedoch keinesfalls gesagt sein, dass die Theorie nicht halte, was sie verspricht – Luhmanns Diagnosen sind durchaus plausibel und erhalten seit Beginn des 21. Jdh. zu Recht zunehmend mehr Beachtung, und seine Beobachtungsangebote könnten gerade jetzt passend sein: Dirk Baecker schlägt in Studien zur nächsten Gesellschaft vor, jene Kulturform, die sich mit dem Internet entwickelt, als Kulturform der Form selbst zu bezeichnen.47 Diesen Vorschlag begreifen wir als einen Denkanstoß: wie sinnvoll wäre es anzunehmen, dass Luhmanns Lösungen gerade in der nächsten Gesellschaft auf Grund einer, von der modernen Form abweichenden primären Differenzierung höchst aktuell sein könnten? Zumindest verhärten sich allmählich die Indizien dafür, dass sich in der netzwerkförmig angelegten Kommunikationsstruktur, die mit dem Internet entstanden ist, Vorstellungen über letztgültige Prinzipien tatsächlich nicht mehr halten lassen.
Quellen
Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1856).
Fölsing, Albrecht: Galileo Galilei: Ein Prozess ohne Ende. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1996.
Goldsmith, Jack: The Terror Presidency. Law and Judgment inside the Bush Administration. New York, London: W.W. Norton & Company 2007.
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (2 Bd.) (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1175).
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp 1999 (2 Bd.) (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1360).
Luhmann, Niklas: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2001. S.76-93.
Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? In: Die Moral der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1871). S.228-269.
Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 4. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2000 (=UTB 2185).
Mayer, Jane: The Dark Side. The Inside Story of How the War on Terror Turned into a War on American Ideals. New York, London, u.a.: Doubleday 2008.
Sands, Philippe: Torture Team. Rumsfeld‘s Memo and the Betrayal of American Values. New York: Palgrave Macmillan 2008.
Spencer-Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. 2. Aufl. Lübeck: Joh. Bohmeier Verlag 1999.
Online-Quellen
Amnesty International Jahresberichte der Jahre 1998, 1999 und 2000.
URL: http://www.amnesty.de. (31.08.2010).
Lewis, A. Neil: Broad Use of Harsh Tactics Is Described at Cuba Base. In: The New York Times (17.10.2004).
URL: http://www.nytimes.com/2004/10/17/politics/17gitmo.html. (31.08.2010).
Transkription der Sendung 60 Minutes II des Senders CBS News vom 28.04.2004.
URL: http://www.cbsnews.com/stories/ 2004/04/27/60II/main614063.shtml. (31.08.2010).
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